Glänzende Oberfläche, fehlende Tiefe?
Eine kritische Reise durch die YouTube Yoga-Welt
Heute will ich mal ganz entspannt Yoga machen. Ich will nirgendwo hingehen, keine Leute
treffen und entscheide mich für ein Anfängervideo auf YouTube:
Eine gutaussehende, muskulöse Frau, steht am Strand. Im Hintergrund hört man das
Meer rauschen, der Wind gleitet sanft durch die Palmen, das Wasser glitzert kristallklar.
Die Frau ist braungebrannt, trägt ein eng anliegendes schickes Yogaoutfit und lächelt.
Anmutig und sanft betritt sie ihre pastellfarbene Yogamatte, die sich in den Sand schmiegt.
Es ist ein harmonisches Spiel der Farben, ein Wellness-Traum, ein Bild, wie aus einem
Reisemagazin.
Ich will mich nicht verbiegen - oder etwa doch?
Währenddessen sitze ich zuhause auf meiner Matte, die ich zwischen Wohnzimmertisch
und TV Schrank auf den Boden gequetscht habe. Ich schiebe noch schnell einen Stapel
Bücher zur Seite und wische ein paar Katzenhaare weg.
So, es kann losgehen.
In der Zwischenzeit haben sich jedoch meine Emotionen verbündet und tippen mir von
hinten energisch auf die Schulter: „Da will ich auch hin, so will ich auch sein, den Körper
will ich auch und schau mal, wie die sich bewegen kann.“
Aber wollte ich nicht bis eben noch so bleiben wie ich bin, im Schlabberlook, völlig
emanzipiert und selbstbestimmt? Halte ich mir nicht täglich einen inneren Vortrag zum
Thema „völlig egal, wie hoch du dein Bein bekommst. Es geht darum Freude an der
Bewegung zu empfinden“?
Irgendwie fühle ich mich jetzt hin- und hergerissen zwischen dem Yogaglitzer und dem
soliden Wohnzimmer Flow. Was symbolisiert diese Welt des Yoga eigentlich, die ich
gerade auch recht faszinierend finde. Warum spricht mich das an?
Sind es innere Sehnsüchte nach Freiheit, Weite, Flexibilität im gesamten Sein oder falle
ich einfach nur auf ein Marketing Konzept herein. Ein Konzept, dass passgenau die
inneren Befindlichkeiten von Menschen anspricht und bei dem es nicht wirklich um Yoga
geht.
Yoga Glitzer als Marketing Konzept
Ich scrolle mich weiter durch YouTube und stelle fest, dass dieses Konzept der rote Faden
zu sein scheint. Dünne biegsame Körper in imposanter Kulisse, sei es der klare Bergsee
oder ein Raum, der aussieht als hätte ihn ein Designer extra „aufgehübscht“.
Minimalistisch, zart und ruhig. Ein stimmiges Konzept, das dem Auge gefällt.
Die Videobeschreibung schreibt Chat GPT mit gezieltem Prompting.
Kennst Du das auch?
Ich bin mir sicher, dass du sie kennst, die ewig gleichen Inhalte genormt in ein
durchdachtest Wortkonzept, angepasst an alle Kanäle.
Aber weißt du was...
Lass uns noch einmal zu meinem Anfängervideo gehen:
Die Frau im Video verspricht mir heute, dass mir diese Einheit Stärke und Klarheit
schenkt, weil ihr Yoga mich kraftvoll öffnet, im Innen und im Außen. Das Ganze dauert nur
20 Minuten.
Selbst ich kann diese 20 Minuten in meinem Zeitplan unterbringen und Klarheit wollte ich
schon immer...wer auch nicht?
Der Start ist noch sanft und machbar. Sie beginnt ihren Körper zu bewegen: geschmeidig,
kraftvoll, tänzerisch leicht. Doch während ich noch dabei bin ihre Flexibilität zu bewundern,
muss ich plötzlich in einem rasanten Tempo springen, stützen und mich verbiegen was
das Zeug hält. Zwischendurch darf ich tief ein- und ausatmen.
Die Frau im Video sieht noch immer blendend aus. Nicht ein Schweißtröpfchen rinnt über
ihr Gesicht. Sie behält ihren rosigen Teint und ihre Schminke im Gesicht bleibt makellos.
Wenn Worte und Körper nicht zusammenpassen
Ist das wirklich Yoga? Momentan kommt es mir eher so vor, als sei ich in einem geschmeidigen Fitness-Workout, welches mir nur die Klarheit darüber verschafft, dass ich nicht stark genug bin, um es
mitzumachen.
Die Erklärungen bleiben spärlich, meine Unsicherheit wächst und ich fühle mich mehr und
mehr wie eine große Sportniete.
„Nimm noch einen tiefen Atemzug und lass Körper und Geist langsam zur Ruhe kommen“,
sagt die Frau im Video. Mein Atem rennt derweil eher um den Block und meine Gedanken
schlagen Purzelbäume: „Das kriege ich nie hin“ oder „Ich bin echt nicht gut genug.“
Sollte hier nicht eigentlich das Gegenteil passieren? So etwas wie: Ich fühle mich
selbstbewusst, klar und energetisiert?
Ich hingegen habe mittlerweile schlechte Laune und fühle mich völlig ausgelaugt.
Im Video sitzt die Yogalehrerin nun in der Grätsche auf dem Boden und möchte, dass ich
den Oberkörper nach vorne und unten bringe. Ich beuge mich ein wenig vor. Nach
wenigen Zentimetern ist Schluss. „Es ist gar nicht schlimm, wenn Du nicht so weit nach
vorne kommst“ betont sie und legt ihren Oberkörper auf dem Boden ab.
Sofort frage ich mich, warum sie das macht. Möchte sie einfach nur zeigen, was sie kann?
Ist es ihr wirklich wichtig mich mitzunehmen, oder geht es hier um etwas ganz anderes?
Geht es ihr um all die wahnsinnig beweglichen Menschen, die dieses Video sehen und
sich gemeinsam mit ihr am Boden räkeln und anschließend kraftvoll von einer Position in
die nächste springen. Ist es ihr wichtig, dass man sieht, wie gut sie ist, weil sie Angst hat
kritisiert zu werden?
Atemlos statt achtsam - Wenn Yoga zur Fitness - Show wird
Wir legen uns derweil zu einer 2 minütigen Endentspannung auf den Rücken.
„Gönne dir nun ein wenig Ruhe und lasse Deinen Atem fließen“
Mein Geist jedoch denkt weiter nach...er kann nicht anders. Er beschäftigt sich mit dem
größeren Kontext und brütet darüber, ob solche Videos ein Spiegel der Gesellschaft sind
mit all ihren Facetten oder ob es an mir liegt...an meiner Unsportlichkeit, daran, dass ich
Yoga einfach nicht verstanden habe, oder etwa daran dass ich einfach nur neidisch bin?
Was es auch ist, von Entspannung bin ich weit entfernt.
Zum Ende hin sitze ich noch einmal frustriert im Schneidersitz, halte die Hände vor
meinem Herz verschlossen und denke, dass Yoga vielleicht nicht für Menschen wie mich
gedacht ist .
Ich frage einfach mal bei Chat GPT nach: „Wie kommt es, dass so viele Videos auf
YouTube Yoga-Videos sind, obwohl sie hauptsächlich aus kraftvollen Übungen bestehen
und wenig Fokus auf die anderen Aspekte des Yoga legen, wie Atmung, Meditation etc.?“
Chat GPT antwortet prompt: „Viele YouTube-Videos fokussieren sich stark auf Asanas,
also die körperlichen Übungen, weil sie sichtbar, leicht zu vermitteln und oft auch
„instagrammable“ sind. In unserer westlichen Welt wurde Yoga über die Jahre stark
körperbetont – dabei ist der Aspekt der Bewegung nur ein kleiner Teil der ursprünglichen
Yoga-Tradition. Streng genommen sind diese Videos oft eher „Yoga-inspiriertes Workout“,
wenn sie Achtsamkeit, Atemführung oder innere Ausrichtung außen vor lassen. Aber: Auch
das kann ein Einstieg sein – und wer dranbleibt, entdeckt vielleicht irgendwann die Tiefe
und Weite, die Yoga wirklich ausmacht.
Kurz gesagt: Ja, das kann Yoga sein – aber es ist oft nur ein kleiner Ausschnitt des großen
Ganzen.
Yoga als Klick Magnet
Ist dies wirklich ein Einstieg ins Yoga? Ich wage es zu bezweifeln.
Sind nicht viele dieser Videos auf Sichtbarkeit und Klickzahlen ausgerichtet und lassen
daher sowohl pädagogische als auch trainingswissenschaftliche Sorgfalt vermissen.
Kommt es nicht auch daher, dass Sätze wie „Yoga für Anfänger“ als Schlagworte benutzt
werden, um eine größere Zielgruppe zu erreichen. Hier geht es nicht um klare
Anleitungen, langsames Aufbauen, funktionelle Übergänge und Raum zum Spüren.Stattdessen werden Yoga Neulinge oft viel zu schnell in komplexe Übungen geführt, ohne
diese ausreichend vorzubereiten und ohne sie zu erklären. Yoga Anfänger fühlen sich
überfordert und bekommen das Gefühl, dass sie nicht gut genug sind.
Dabei sollte es so sein, dass Yoga unabhängig von Alter, Herkunft oder körperlicher
Verfassung praktiziert werden kann. Das heißt, wenn „Anfänger-Video“ draufsteht ist auch
wirklich „Anfänger-Video“ drin.
Yoga erfahren statt konsumieren
Yoga bietet dir einen Weg deinen Körper, deine Seele und deinen Geist in Einklang zu
bringen indem es körperliche, mentale und spirituelle Übungen verbindet. Dies erfordert
jedoch Geduld und geht leider nicht in 20 Minuten. Lass dich davon also bitte nicht
abschrecken.
Die Kernpraktiken umfassen Asanas (Körperübungen), Pranayama (Atemlenkung),
Dhyana (Meditation) und zudem ethisch-philosophische Richtlinien wie Yamas (Leitlinien
für das Verhalten in der Gemeinschaft und gegenüber anderen Menschen) und Niyamas
(persönliche Praktiken und Verhaltensregeln, die Selbstdisziplin, Reinheit und Hingabe
fördern).
Es gibt auch auf YouTube viele kompetente Yogalehrende, die sich wirklich Mühe geben.
Dies will ich gar nicht bestreiten.
Wenn Du jedoch neu bist im Yoga und du wirklich lernen willst, was Yoga ist, worum es
eigentlich geht und worauf du achten musst, dann besuche einen Yogakurs. Nur dort
bekommst du unmittelbares Feedback und Korrekturen, die dein Verletzungsrisiko
minimieren. Durch physische und individuelle Anpassungen erzielst du schneller
Lernerfolge und stärkst durch die Gruppengemeinschaft deine Motivation und Kontinuität.
Durch geplante und klar strukturierte Abfolgen und Trainingsprinzipien wird deine sichere
und progressive Entwicklung gewährleistet.
Nach einer Weile kannst du einschätzen, welche Videos zu dir passen und professionell
gestaltet sind.
Gutes Yoga online geht so:
Auch ich praktiziere mit YouTube Videos, weil ich dadurch mein Yoga flexibel gestalten
kann, und weil ich als hochsensibler Mensch nicht immer mit einem guten Gefühl zu
Yogakursen gehen kann.
Für die Vielzahl an Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zu einem
Yogakurs gehen können, bleibt oft nur die Alternative online zu praktizieren.
Wenn du auch zu diesen Menschen gehörst solltest du beim Praktizieren auf YouTube
auf folgende Kriterien achten:
1. Die Lehrerin/der Lehrer ist zertifiziert. Konkret bedeutet das, dass Yoga - Lehrende
mindestens eine 200 stündige Yoga-Ausbildung absolviert haben.
2. Videoqualität und -beschreibung: Die Videos sind so ausgerichtet, dass du die
Lehrkraft gut erkennen kannst und auch gut verstehst. Titel und Beschreibung nennen das
Level (z.B. Anfänger) die Dauer, benötigte Hilfsmittel und beschreiben kurz worum es geht.
3. Abfolge: Eine durchdachte Sequenz besteht aus Aufwärmen, Hauptteil und
Entspannung. Dies erhöht deine Sicherheit und schützt dich vor Verletzungen.
4. Hinweise zu den Übungen: Achte darauf, dass das Video Sicherheitshinweise enthält
(z.B. lege dir eine Decke unter deine Knie etc.), und dass Übungsvarianten angeboten
werden, um Überlastung zu vermeiden. Gute Videos erläutern, welche Muskelgruppen
beansprucht werden.
5. Atemübungen: Suche dir Kurse aus, in denen Atemübungen nicht nur am Anfang
sondern auch während der Sequenz immer wieder Raum finden. So wird die Verbindung
zwischen Atem und Bewegung gestärkt.
6. Meditation/Entspannung: Gute Yogavideos schließen mit einer geführten Meditation
oder einer entspannten Shavasana-Phase, damit die Praxis körperlich wie geistig
abgerundet wird.
Es ist schon einige Jahre her, dass ich das Video am Strand bis zum Ende durchgeführt
habe, obwohl ich damit überfordert war und mich überhaupt nicht wohlgefühlt habe. Ich
habe diesen Text geschrieben, um dich davor zu bewahren. Bitte erlaube es dir ein Video
abzubrechen, wenn du dich damit nicht wohlfühlst.
Vertraue deinem Körper. Er weiß, was du brauchst.
Wenn du mehr zu diesem Thema wissen willst oder dir eine Beratung wünschst, schreibe
mir eine Mail an: info@bewegungsintensiv.de
Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen.
Genieße den Moment und pass gut auf dich auf,
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